In liebevoller Erinnerung an M.

November 2016.

08.11.1992 – Der Tag in dessen Nacht davor ein Freund mit seinem Kleinmotorrad von einem Auto erfasst wurde und noch an der Unfallstelle verstarb. Direkt vor der Disko in der ich damals viel Zeit meines Lebens verbracht hatte.

In der Nacht in der M. auf der Bundesstrasse gestorben ist war ich auf einer Kellerparty meiner Schulfreundin mit anschließender Übernachtung. Eigentlich war´s die Geburtstagsparty ihrer großen Schwester. Wir beide mittendrin. Sturzbetrunken. Freundin B. und ich sind mit unseren jungen Jahren mit dem Moped eines Freundes in der Kellergasse rumgefahren. Und sind gestürzt. Haben uns aber nicht verletzt. Weiter getrunken. Sauren Apfel? Roten Wodka? Rausch. Sonntagmorgen. Erfahren, dass M. gestorben ist. Eine schlimme Todesnachricht erhalten. Heimwärts. Heimgebracht worden? Abgeholt worden? Ich weiß es nicht mehr.

Am frühen Nachmittag dann Dienst im Heurigenlokal meiner Eltern. Unter Schock stehen. Bedienen, Gläser waschen. Lächeln müssen. Verkatert sein. Die Wortfetzen der Herrschaften an den Tischen mitbekommen. Beinhart. Wie das so ist. Wenn etwas passiert. Am Land. In der Gegend. Und wenn eine Nachricht die Runde macht. Da brodelt´s in der Gerüchteküche. „Tragisch… … war noch so jung… …Hirn ausgeronnen… …mit 160 km/h mit dem kleinen Auto unterwegs… …er hat die Geschwindigkeit unterschätzt… …vorher Freundin nach Hause gebracht… …gleich bei der Kreuzung is gscheh´n…“,… im Weinviertler Dialekt halt.

All those voices and faces around me.

Ich geh raus. Halt das alles nicht aus. Werde irgendwie nüchtern. Weine im Schutze des Stiegenaufgangs. Kann und darf aber nicht weggehen oder heimgehen. Darf nicht einmal eine rauchen. Weil hier ja niemand weiß und wissen darf, dass ich rauche. Und: Dienst ist Dienst. Ich werde gebraucht. Gläser waschen. Leise weinen. Freundliche Miene machen. Am falschen Platz fühlen. Kein Mitgefühl erwarten dürfen weil keines anwesend. So hat es sich angefühlt. Niemanden anrufen können um sich auszutauschen. Kein Handy weit und breit im Jahr 1992. Sie verbringen einen angenehmen, heiteren Sonntagnachmittag beim Heurigen und hören sich um, was es Neues gibt. Ihre Freude. Meine Hölle. Und von daher wohl unvergessen.

M. war einer von jenen Menschen, die man nur gern haben konnte und in dessen Anwesenheit man sich wohl gefühlt hat. Seine freundliche, höfliche Art. Sein Witz und sein Lachen. Sein Gescheitsein im positivsten Sinne. M. war ein sehr guter Schüler. Meiner Freundin B. hat er Nachhilfe gegeben. Einige Seidl Bier miteinander getrunken, draußen vor der Disko. Zigaretten geraucht. Unterhalten. Gelacht. Zeit gemeinsam verbracht.

An eine Episode erinnere ich mich sehr gerne: Es gab Tage, wo ich das Heurigenlokal aufgesperrt habe, weil meine Eltern noch im Weingarten oder im Stall oder sonst wo zu tun hatten. Das hat bedeutet, dass ich in den ersten ein bis zwei Stunden den Laden über hatte. An einem dieser Tage kamen mich M. und mein Cousin mit dem Rad besuchen. Kein eventuell grantiger und/oder betrunkener Heurigenwirt zugegen, sondern einfach die Jugendlichen ungezwungen unter sich für eine Weile. Essen, trinken, Schmäh führen, plaudern und dann die 7 km – damals gefühlt relativ weit weg so ohne Moped und ohne Auto – wieder heimradeln. Also die beiden. Ich hab mich einfach nur gefreut, dass sie einen Ausflug zu mir gemacht haben.

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Tod. Den kannte ich. Vom „Sau abstechen“ bei uns zuhause. Damit aufgewachsen. Hühner gerupft wenn eines wiedermal von einem Auto angefahren bzw. überfahren wurde. … Vater die Babykatzen bringen müssen, damit er sie erschlagen konnte. (…) Zusehen, wie eines unserer Pferde, ebenfalls daheim am bzw. im Hof, geschlachtet wurde. „Roßwuascht, wirst sehen, das kommt gut an bei den Leuten im Heurigen.“ …waren so sinngemäß Vaters Worte und Motivation dahinter. Schimmelstute F., die unberechenbar und mir dennoch von Grund auf lieb war, wurde zu Wurst verarbeitet. Tauben wurden vom Dach geschossen und zubereitet. Häsin U. landete ebenfalls auf unseren Tellern. Intuitiv aber nicht auf meinem. …aber das ist eine von vielen anderen Geschichten und Begebenheiten.

Tod. Den kannte ich auch von daher, wenn jemand im mehr oder wenigen hohen Alter verstorben war. Aus der Verwandtschaft oder im Ort. Begräbnisse hab ich vom Ministrieren gekannt (gemeinsam mit meiner besten Freundin die ersten Mädchen in der burschendominierten Sakristei) und mit Kirchenzeitung und „Partenzettel“ austragen – also der Todes- und Beerdigungsbotschaft überbringen – hab ich mir mein erstes Taschengeld verdient. Ich erinnere mich, dass ich bei manchen verstorbenen OrtsbewohnerInnen wirklich traurig war. Nicht nur, weil ich ihnen ihre Kirchenzeitung nicht mehr bringen konnte. Eine Grabinschrift mehr am Friedhof. Der/dem Letztverstorbenen gefolgt bzw. hat der/die Letztverstorbene diesen Menschen nachgeholt, so sagte man. Liebe, alte und teilweise wohl auch sehr einsame Damen, die es genossen haben, sich mit mir, der Überbringerin der Kirchenzeitung, zu unterhalten. Oder mich auszufratscheln. Oder beides. Und die mir gerne Trinkgeld gegeben haben. Von daher war es also irgendwie immer schon so, dass der Tod dazu gehörte. Und dass das alles nun mal so ist. Kranke Menschen können sterben. Alte Menschen sterben. Und plötzlich ist M. gestorben. Mit 16 aus dem Leben gerissen. Unendlich viele Menschen mit ihrer Trauer zurückgelassen. Familie, FreundInnen, SchulkollegInnen, LehrerInnen, …sein soziales Umfeld. Das erste Mal in meinem Leben war ich so direkt mit dem plötzlichen Tod eines mir wirklich lieben Menschen konfrontiert. Und wusste nicht, wie mir geschah. Trauriges, gerüchteumwobenes Thema. Im Autobus, in der Schule, am Wochenende beim Fortgehen. Zwei Wochen später fand die Beerdigung statt.

…dann bin ich immer wieder an seine Grabstätte gefahren. Zu seiner Gruft. Blumen und Kerzen zum Geburtstag oder Todestag. Irgendwann bin ich dann nicht mehr hingefahren. Immer wieder an ihn denken. Nicht vergessen. Nicht nur an seinem Geburtstag oder an Tagen wie dem 8. November. Diesen jetzt aber zum Anlass nehmen, um die Erinnerungen niederzuschreiben. Keep the memories alive.

„With or without you“ von U2 hören. Ich weiß nicht wieso, aber es war dieses Lied, das ich damals so oft wie möglich gespielt hab. In der Zeit der Trauer und des Erinnerns und Verstehenwollens. Es ihm zu Ehren und seiner gedenkend, weinend, lächelnd, Erinnerungen hochhaltend, in den CD-Player eingelegt. Gefühlt, als ob ich ihn mit der Musik wie mit einem Telefon anrufen und eine Leitung herstellen könnte, wenn ich das gemacht hab. Er es hören kann. Und ich mich zurückgezogen hab. Heimlich rauchend ins Zimmer meines Bruders. Weinen gehen. Jahrelang noch Tränen vergossen wenn das Lied auf einer Party, einer Tanzfläche gelaufen ist. Bis ich es irgendwann mit einem Lächeln hören konnte. „With or without you“ macht irgendwie echt keinen Sinn. Aber was macht schon Sinn, wenn man 14 und unendlich traurig ist, frag ich mich 24 Jahre später.

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Kontrastprogramm: Auch den Hit von Inner Circle „Sweat | A La La La La Long“ hab ich damals immer wieder laufen lassen. Weil mir zu Ohren gekommen war, dass das eines seiner aktuellen Lieblingslieder sei. Und das Lied  damals auch immer in besagter Disko gelaufen ist. Also hab ich es im Zimmer meines Bruders für M. gespielt. Trost suchend. Mir vorstellend, welch Freude er hatte, wenn er das Lied gehört hat als er noch am Leben war. Und gelächelt und gelacht hat, dass einem das Herz aufgegangen ist. Es war und sei auch an dieser Stelle M. gewidmet:

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Dass B. und ich in jener Nacht mit dem Moped gestürzt und vollkommen unverletzt geblieben sind fanden wir noch sehr lange, sehr „spooky“.

Seit diesem Tag, dem 8.11.1992, ist jeder darauffolgende November von einer traurigen Grundstimmung begleitet gewesen. Weitere Todestage von geliebten Wesen sollten in den weiteren Jahren an kalten Novembertagen noch folgen.

„Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.“ – Dietrich Bonhoeffer

„Wenn Du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es Dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! (…) Und wenn Du Dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. …“ – Antoine de Saint Exupéry | „Der kleine Prinz“

In diesem Sinne bedanke ich mich für gemeinsame Momente, lieber M. Ich trage sie als kostbares Geschenk mit mir. Für immer.

In loving memory,

yours Anita aka Hauserin.